Kaum einer wird ihm während seiner Grundschulzeit nicht begegnet sein, dem Poesiealbum. Die meist quadratischen Blanko-Bücher wurden zumindest vom weiblichen Anteil der Klassengemeinschaft eifrig herumgereicht. Man schmückte die rechte Seite mit einem Sprüchlein aus Omas Zeiten oder setzte neue Maßstäbe mit einem modernen Vers, den man aus einem anderen Album abgeguckt hatte. Mehr oder weniger motiviert wurde die linke Seite mit kunstvollen Eigenkreationen, Glanzbildern oder angesagten Glitzer-Stickern versehen, um das nunmehr gesetzte Denkmal ewiger Freundschaft danach feierlich dem Besitzer zu überreichen.
Wer hat’s erfunden?
Das Prinzip des Poesiealbums hat sich seit Großmutters Zeiten kaum gewandelt. Ihren Anfang hatte diese Tradition gegen Ende des 16. Jahrhunderts: Während der Reformation hatte man begonnen, so genannte Autographe (=Niedergeschriebenes) berühmter Reformatoren in Papierform zu dokumentieren.
Des Weiteren dienten so genannte Stammbücher, später auch als „Album Amicorum“ bezeichnet, dem Adel des ausgehenden 15. Jahrhunderts dazu, sich anlässlich von Turnieren, höfischen Festen oder politischen Versammlungen auszuweisen. Den darin enthaltenen Geschlechterwappen wurden im Laufe der Zeit Wahlsprüche hinzugefügt.
Auf diese Weise entstand schließlich der Brauch, guten Freunden Namen, Wappen und Wahlspruch in ein Stammbuch zu schreiben, um es so zu einer Art „Erinnerungsbuch“ werden zu lassen.
Das Stammbuch, der studentische Vorläufer
Später erfreuten sich Stammbücher besonders unter Studenten großer Beliebtheit. Das Sammeln von klugen Sprüchen der Professoren erfüllte dabei nicht nur eine Erinnerungsfunktion, sondern diente auch als Empfehlung für ein Studium an einer anderen Universität. Auf den ursprünglich losen Blättern verzeichnete man Gedichte, Lieder oder gewinnbringende Ratschläge. Zudem wurde das Geschriebene zumeist mit einem Wahlspruch und näheren Angaben zum Verfasser ausgestattet. Diese konnten Name, Datum, Herkunftsort oder universitäre Fakultät bezeichnen. Eine Dedikationsformel, also eine Widmung an den Besitzer des Stammbuches, vervollständigte die Eintragung.
Noch heute sind zahlreiche Zeugnisse der Studenten-Stammbücher vorhanden und werden von der Geschichtswissenschaft erforscht. Ihr historischer Wert liegt aber nicht in erster Linie in dem meist lateinisch verfassten Text, sondern im Beiwerk: Mit Porträts, Stadtansichten, Karikaturen oder ähnlichem bestückt, stellen Stammbücher wichtige Zeitzeugnisse dar, die weit mehr verraten als Details zum Besitzer des Buches oder zu seinem Bekanntschaften.
Insbesondere im 18. Jahrhundert entwickelte sich ein eigener Geschäftszweig für vorgefertigte Grafiken und Stammbuchblätter. Besonders beliebt waren dabei Bilder mit Universitätsstädten und einzelne Szenen aus dem studentischen Leben.
Anfang des 19. Jahrhunderts kam das Stammbuch langsam außer Mode; Widmungen und Wahlsprüche zierten nun zunehmend verschiedene Couleurgegenstände wie beispielsweise bemalte Bierkrüge. Bis heute wird diese Tradition in diversen studentischen Verbindungen aufrechterhalten.
Frau erobert die Domäne des Mannes
Was bis ins 19. Jahrhundert als reine Männerdomäne galt, ging langsam in Frauenhände über. Gebundene Alben ersetzen das lose Blätterwerk der Stammbücher. Die Inhalte rückten von den Wahlsprüchen ab und wurden an die damalige weibliche Lebenswelt angepasst: Gute Wünsche, Versicherungen des ewigen Andenkens und Ermahnungen zur Tugendhaftigkeit versah man mit adretten Glanzbildern und romantischen Ornamenten.
Zunächst war das Poesiealbum der wohlerzogenen Tochter des Bürgertums vorbehalten; doch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts tauschten auch Bauern- und Arbeitertöchter Erinnerungsbücher aus.
Was die Sprüchlein sagen wollen
Fast jeder kann noch den einen oder anderen Albumspruch aufsagen. Die meisten Sprüche reimen sich und gewährleisten so die Einprägsamkeit. Genau darin liegt auch der traditionelle Auftrag der Bücher.
Im Wesentlichen sind die übermittelten Inhalte der Poesiesprüche auch heute noch dieselben: Gute Lebensratschläge und Freundschaftsbekundungen. Zwar sind Albumsprüche seit jeher als „unpolitisch“ einzustufen, doch lassen sich zwischen den Zeilen bemerkenswerte Rückschlüsse auf den Zeitgeist machen. Neben den eingeklebten Bildchen sprechen nämlich auch die in Versen vermittelten Werte eine eindeutige Sprache. Während heutzutage meist auf lustige Verse oder Freundschaftsbeteuerungen zurückgegriffen wird, nehmen viele Sprüche der vergangenen Jahrhunderte Bezug auf Mutterliebe und Heimattreue. Während des Dritten Reiches blieben selbstverständlich auch Poesie-Eintragungen nicht vor Propaganda gewahrt („Sei tapfer, treu und edel, mit einem Wort: Ein deutsches Mädel!“).
Sofern heute noch auf altbewährte Verse zurückgegriffen wird, liegt deren Hauptaugenmerk aber eher auf Nostalgie als auf ernst gemeinten Ratschlägen. Aufkleber und Starbilder haben Glanzbildchen abgelöst und das Konzept des Poesiealbums erhielt Konkurrenz durch das so genannte Freundschaftsbuch. Auf vorgefertigten Seiten tauschen sich Schüler nun über ihren Berufswunsch, ihr Lieblingstier, Vorbilder und Songs aus. Im Grunde handelt es sich dabei um eine etwas altertümliche Art sozialen Netzwerkes. Und diese sind lösen ihrerseits nun wieder die Freundschaftsbücher ab und wandeln sich von Buchzeugnissen in ein digitales Erbe.
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